Verluste prägen. Und für Pflegekinder bedeutet jeder neue Abschied oft mehr als für andere Kinder. Denn ihre Lebensgeschichte ist meist gezeichnet von schmerzhaften Trennungen: der Herausnahme aus der Herkunftsfamilie, dem Verlust von Geschwistern, Bindungsabbrüchen oder wechselnden Lebensorten. Diese frühen Erlebnisse hinterlassen Spuren – und sie beeinflussen, wie Pflegekinder spätere Abschiede empfinden und verarbeiten.
In diesem Artikel beleuchten wir, wie Pflegekinder auf Verluste reagieren, warum scheinbar „kleine“ Trennungen große Gefühle auslösen können und wie Pflegeeltern sensible Begleitung leisten können. Denn wer versteht, warum ein Schulwechsel in eine Krise führt oder der Tod eines Haustiers alte Wunden öffnet, kann Halt geben, wo es am meisten gebraucht wird.
Die Prägung durch frühere Verluste
Viele Pflegekinder wurden in einer Situation großer Unsicherheit aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen. Diese Trennung ist oft abrupt, traumatisch und schwer zu verarbeiten. Auch wenn sie aus Kinderschutzgründen notwendig war, bleibt sie für das Kind eine tiefgreifende Erfahrung von Verlust und Ohnmacht.
Frühkindliche Trennungen beeinflussen, wie das Kind später auf jede Form von Abschied reagiert. Oft wird die alte Erfahrung reaktiviert: Die Angst, wieder verlassen zu werden, ist präsent. Auch dann, wenn es „nur“ um den Umzug eines Freundes oder den Abschied vom Kindergarten geht. Diese Angst kann sich in Rückzug, Wut oder verstärkter Anhänglichkeit äußern. Pflegeeltern sollten diese Verhaltensweisen nicht als „unangemessen“ abtun, sondern als Ausdruck innerer Not erkennen und begleiten.
Verlust triggert Bindungssysteme
Pflegekinder haben ein besonders sensibles Bindungssystem. Ihre Erfahrungen mit Menschen sind oft ambivalent: Liebe war vielleicht verknüpft mit Gewalt, Nähe mit Instabilität. Kommt es nun zu einem Verlust, wird nicht nur die aktuelle Beziehung betroffen – sondern das gesamte Sicherheitssystem des Kindes erschüttert.
Ein scheinbar harmloser Wechsel der Lehrkraft kann plötzlich Ängste auslösen, die für Erwachsene unverständlich erscheinen. Das Kind erlebt dabei oft erneut eine innere Bedrohung, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Es kann das Vertrauen in neue Beziehungen verlieren oder sich emotional abschotten. Umso wichtiger ist eine liebevolle, konstante Bezugsperson, die dem Kind Halt gibt und seine Reaktionen verstehend begleitet.
Schulwechsel, Umzug, Abschied von Freunden
Gerade in der Kindheit sind Schulwechsel oder Umzüge Teil des Aufwachsens. Doch für Pflegekinder können diese Ereignisse tiefe Verunsicherung auslösen. Sie verlieren bekannte Strukturen, wichtige Bezugspersonen und soziale Zugehörigkeit – und damit gefühlte Sicherheit.
Ein Schulwechsel kann etwa die Verlustangst verstärken, weil das Kind glaubt: „Ich bin wieder nicht gut genug“ oder „Ich werde wieder allein gelassen“. Die Pflegefamilie sollte solche Prozesse ernst nehmen und das Kind aktiv begleiten: durch Vorbereitung, Gespräche, Rituale und viel Verständnis. Auch kleine Gesten wie ein Abschiedsgeschenk für einen Freund oder ein Besuch am alten Wohnort können helfen. Je transparenter und partizipativer der Wechsel gestaltet wird, desto eher kann das Kind Kontrolle und Sicherheit erleben.
Wenn Tiere sterben oder verschenkt werden
Haustiere sind für viele Kinder emotionale Anker. Für Pflegekinder oft noch mehr: Sie erleben Tiere als konstant, liebevoll und bedingungslos anwesend. Der Tod eines Tieres oder auch die Trennung von einem Tier (z. B. durch Umzug oder Allergien) kann tiefe Trauer auslösen.
Diese Trauer ist nicht „übertrieben“. Sie ist ein Ausdruck davon, wie wichtig Bindung für das Kind geworden ist – und wie tief es Verluste empfindet. Pflegeeltern sollten das Tier nicht „ersetzen“ oder die Gefühle relativieren, sondern Raum für Trauer und Abschied schaffen. Auch Rituale wie eine Beerdigung, das Malen eines Bildes oder ein Erinnerungsalbum können tröstlich wirken und dem Kind helfen, das Geschehene zu verarbeiten.
Wechsel von Bezugspersonen im Alltag
Auch kleine Wechsel können große Wirkung zeigen: Eine neue Schulbegleitung, eine andere Erzieherin oder ein neuer Gruppenleiter können das innere Gleichgewicht des Pflegekindes durcheinanderbringen. Wieder wird Vertrautes durch Unbekanntes ersetzt – und damit alte Verlustmuster aktiviert.
Pflegeeltern sollten solche Wechsel wenn möglich vorbereiten, gemeinsam reflektieren und die Bindung zum Kind in dieser Zeit besonders betonen. Auch eine kleine Abschiedsfeier oder ein „Danke-Brief“ an die alte Bezugsperson kann helfen, den Wechsel bewusst und wertschätzend zu gestalten. Wichtig ist auch, das Kind nicht zu drängen, sofort Vertrauen zur neuen Person aufzubauen. Jeder Wechsel braucht Zeit, Sicherheit und das Gefühl: „Ich darf traurig sein, aber ich bin nicht allein.“
Verlust durch Konflikte: Freundschaften und Gruppen
Nicht nur räumliche oder strukturelle Trennungen sind belastend. Auch Konflikte in Freundschaften, Ausgrenzung oder Gruppenwechsel können bei Pflegekindern starken Verlustschmerz auslösen. Sie interpretieren das Geschehen häufig als Bestätigung für ein negatives Selbstbild: „Ich bin zu schwierig“, „Ich gehöre nicht dazu“.
Hier hilft vor allem: zuhören, das Kind ernst nehmen und alternative Deutungen anbieten. „Nicht jeder Streit bedeutet das Ende einer Freundschaft.“ Oder: „Du hast ein Recht auf gute Freunde, die dich respektieren.“ Gleichzeitig ist es hilfreich, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, z. B. neue Freizeitangebote, soziale Trainings oder Kontakte über Hobbys. So erlebt das Kind, dass es Gestaltungsspielraum hat und nicht passiv ausgeliefert ist.
Abschiede im Alltag: Lehrerwechsel, Praktikanten, Gruppenaufteilung
Manche Abschiede kommen häufig vor: Ein geliebter Praktikant geht, die Klassen werden neu aufgeteilt oder ein Ferienprogramm endet. Erwachsene nehmen das als normalen Wandel wahr – für Pflegekinder sind es oft emotionale Ausnahmesituationen.
Wichtig ist hier die Anerkennung des Gefühls: „Ja, du bist traurig, weil XY geht. Das darfst du sein.“ Der Abschied sollte aktiv gestaltet werden: durch Gespräche, kleine Erinnerungen, Fotos oder symbolische Gesten. Solche Rituale helfen dem Kind, Kontrolle und Struktur zu erleben. Ein liebevoller Abschied vermittelt: „Ich werde gesehen, mein Schmerz wird ernst genommen.“
Verlust durch Rückführung oder Geschwistertrennung
In einigen Fällen kommt es zur Rückführung einzelner Kinder zur Herkunftsfamilie, während andere in der Pflegefamilie bleiben. Auch Geschwistertrennungen sind leider keine Seltenheit. Für das zurückbleibende Kind ist das oft hoch belastend: Es fühlt sich allein gelassen, vielleicht auch schuldig.
Diese Prozesse brauchen intensive Begleitung: Aufklärung, Gespräche, ggf. therapeutische Hilfe. Wichtig ist, die Loyalitätskonflikte ernst zu nehmen und dem Kind zu vermitteln: „Deine Gefühle sind richtig, und du bist damit nicht allein.“ Auch der Kontakt zum Geschwisterkind sollte, wenn möglich, aufrechterhalten werden. Ein offener Umgang mit der Situation hilft, Ängste zu reduzieren und Bindungen zu stärken.
Pflegeeltern als sichere Basis in Zeiten des Verlusts
Der wichtigste Schutzfaktor bei Verlusten ist eine stabile Bezugsperson. Pflegeeltern, die verlässlich, zugewandt und feinfühlig reagieren, können dem Kind helfen, Abschiede besser zu verarbeiten. Sie dürfen dabei selbst traurig sein, aber nicht hilflos oder wertend wirken.
Ein Satz wie „Ich bin bei dir, wenn es dir schlecht geht“ oder „Wir gehen da gemeinsam durch“ gibt dem Kind Sicherheit. Auch Rituale wie eine Erinnerungsbox, ein Abschiedsbuch oder ein kleiner Briefwechsel können Halt geben. Pflegekinder brauchen das Gefühl: „Ich verliere nicht alles – jemand bleibt.“ Je stärker diese Bindung, desto größer die Resilienz gegenüber neuen Verlusten.
Professionelle Unterstützung bei wiederholten Verlustreaktionen
Wenn Pflegekinder sehr heftig oder dauerhaft auf Verluste reagieren, kann therapeutische Begleitung sinnvoll sein. Traumapädagogische Fachkräfte, Kinder- und Jugendtherapeuten oder systemische Berater helfen, die inneren Prozesse einzuordnen und zu stabilisieren.
Wichtig ist: Pflegeeltern müssen solche Situationen nicht allein tragen. Der Jugendhilfeträger unterstützt mit Beratung, Vermittlung und konkreter Hilfe. Gemeinsam kann ein Rahmen geschaffen werden, in dem Verluste nicht retraumatisieren, sondern verarbeitet werden können. Es braucht Zeit, Geduld und Vertrauen, damit sich Heilung entfalten kann.
Fazit: Jeder Abschied zählt
Pflegekinder erleben Verluste oft intensiver als andere Kinder. Ihre frühere Geschichte macht sie empfindsam für jede Form der Trennung – ob groß oder klein. Deshalb ist es so wichtig, dass Pflegeeltern diese Prozesse bewusst begleiten, Trennungen vorbereiten, Gefühle ernst nehmen und dem Kind helfen, einzuordnen, was geschieht.
Als Jugendhilfeträger unterstützen wir Pflegefamilien dabei mit Fachwissen, Erfahrung und einem offenen Ohr – weil kein Kind mit seinen Verlusten allein sein sollte.