Wenn Pflegekinder lügen oder flunkern: Warum Wahrheit manchmal Schutz bedeutet

Pflegekind steht mit gesenktem Blick im Wohnzimmer, Pflegeeltern sitzen ruhig im Hintergrund

Pflegekinder bringen oft mehr mit, als man auf den ersten Blick sieht: Erfahrungen von Vernachlässigung, Angst, Unsicherheit. Ihr Verhalten ist oft nicht nur Reaktion auf das Hier und Jetzt, sondern geprägt von früh gelernten Überlebensstrategien. Eine davon ist das Lügen. Doch was in Pflegefamilien oft für Frust sorgt, hat auf den zweiten Blick eine wichtige Funktion: Lügen bedeuten nicht automatisch fehlenden Respekt oder mangelnde Moral. Sie bedeuten oft Schutz.

In diesem Artikel zeigen wir aus Sicht eines Jugendhilfeträgers, wie Pflegeeltern mit dem Thema „Lügen“ konstruktiv und verständnisvoll umgehen können – ohne alles durchgehen zu lassen, aber mit dem Wissen: Verhalten hat immer eine Geschichte.

Warum Kinder lügen – und Pflegekinder besonders oft

Jedes Kind lügt irgendwann. Doch Pflegekinder flunkern oft häufiger, intensiver oder scheinbar grundlos. Dahinter steckt meist kein Wunsch nach Manipulation, sondern ein Schutzmechanismus. Wer früh gelernt hat, dass die Wahrheit zu Strafe, Ablehnung oder Kontrollverlust führt, sucht nach Auswegen. Lügen bieten kurzfristig Sicherheit: vor Konflikten, vor Verlust, vor Scham.

Zudem fehlen vielen Pflegekindern sichere Bindungserfahrungen. Sie wissen nicht, ob Ehrlichkeit wirklich willkommen ist. Die Angst, „verstoßen“ oder abgelehnt zu werden, sitzt tief. Dann ist eine Lüge einfacher als ein ehrliches Eingeständnis. Auch Loyalitätskonflikte können eine Rolle spielen: Etwa, wenn das Kind über Besuche bei den Herkunftseltern nicht die Wahrheit sagen möchte.

Pflegekinder lügen auch, weil sie in Systemen aufgewachsen sind, in denen Wahrheit kaum eine Rolle spielte. Wenn Erwachsene unberechenbar, widersprüchlich oder emotional instabil waren, konnte ein Kind lernen: Wahr ist, was gerade gebraucht wird. Lügen dienten dann nicht nur dem Selbstschutz, sondern auch der Anpassung. In der Pflegefamilie treffen sie nun auf neue Werte – Vertrauen, Offenheit, Klarheit. Diese neue Umgebung braucht Zeit, bis das Kind sie als sicher genug erlebt, um alte Strategien abzulegen.

Lügen als Teil früher Traumadynamiken

Viele Pflegekinder haben in ihren frühen Lebensjahren traumatische Situationen erlebt: Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch, emotionale Kälte. In solchen Kontexten kann die Wahrheit bedrohlich gewesen sein. Vielleicht wurde ein Kind bestraft, wenn es übergriffiges Verhalten benannte. Oder es wurde manipuliert, ängstlich gemacht, entwertet. Daraus entwickeln sich innere Muster: „Ich darf nichts sagen.“ oder „Ich muss das Richtige sagen, sonst passiert etwas Schlimmes.“

Diese tief sitzenden Reaktionsmuster verschwinden nicht mit dem Einzug in die Pflegefamilie. Selbst wenn objektiv keine Gefahr mehr droht, bleibt das alte Gefühl bestehen. Das Kind kann nicht anders, als sich zu schützen. Und manchmal heißt Schutz: nicht die Wahrheit sagen.

Lügen sind in traumatisierten Familiensystemen oft eine Frage des Überlebens. Viele Kinder haben gelernt, sich selbst durch erfundene Geschichten emotional zu retten: Die Mutter war nicht betrunken, sondern müde. Der Vater hat mich nicht geschlagen, sondern war nur wütend. Diese Schutzfunktionen wirken weiter – auch in einem neuen Umfeld. Erst wenn Pflegekinder erfahren, dass auch unangenehme Wahrheiten ausgehalten und nicht verurteilt werden, beginnt eine langsame Umlenkung der inneren Reaktionsmuster.

„Warum hast du gelogen?“ ist die falsche Frage

Viele Pflegeeltern sind verletzt oder verärgert, wenn ihr Pflegekind lügt. Das ist verständlich – Vertrauen ist schließlich die Basis jeder Beziehung. Doch direkte Konfrontation oder moralisierende Fragen wie „Warum hast du gelogen?“ führen selten weiter. Sie erzeugen Druck, Scham und weitere Schutzreaktionen.

Stattdessen hilft es, hinter das Verhalten zu schauen: Was hat das Kind beunruhigt? Wovor hatte es Angst? Welche Reaktion hat es erwartet? Wenn Pflegeeltern die Lüge nicht nur als Regelbruch, sondern als Ausdruck eines inneren Konflikts betrachten, entsteht Raum für Entwicklung.

Kinder können selten klar erklären, warum sie lügen. Die Frage setzt voraus, dass sie sich ihrer Motive bewusst sind – doch oft ist das Verhalten impulsiv, unreflektiert oder unbewusst gesteuert. Besser als „warum“ ist ein liebevolles „was war schwer für dich in dem Moment?“ oder „was hast du befürchtet, wenn du es mir gesagt hättest?“. Solche Fragen schaffen Verbindung, statt Mauern aufzubauen. Pflegekinder brauchen emotionale Dolmetscher, keine Ermittler.

Sicherheit statt Strafe: Der richtige Umgang mit Unwahrheit

Pflegekinder brauchen nicht mehr Kontrolle, sondern mehr Sicherheit. Das heißt nicht, Lügen zu „erlauben“ – aber sie müssen in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden. Die wichtigste Botschaft lautet: „Du bist auch dann okay, wenn du etwas falsch machst.“

Pflegeeltern können mit ruhiger Stimme benennen, was ihnen auffällt: „Ich glaube, das stimmt so nicht ganz. Du kannst ehrlich mit mir sprechen. Ich bin da.“ Diese Haltung signalisiert: Du musst dich nicht verstecken. Es ist sicher, ehrlich zu sein. Und: Du wirst nicht beschämt, sondern verstanden.

Ein sicherer Rahmen bedeutet nicht, dass alles erlaubt ist – sondern, dass Konsequenzen nachvollziehbar, ruhig und nicht verletzend vermittelt werden. Statt impulsiv zu reagieren, hilft es, mit dem Kind über Alternativen zu sprechen: „Was hättest du sagen können, wenn du keine Angst gehabt hättest?“ Auch kleine Erfolgserlebnisse in ehrlicher Kommunikation sollten verstärkt werden. Wertschätzung für Mut stärkt das Kind weit mehr als Strafe für Unwahrheit.

Ehrlichkeit als Beziehungserfahrung vermitteln

Kinder lernen durch Beziehung. Ehrlichkeit ist nicht das Ergebnis von Appellen oder Regeln, sondern von Erleben. Wenn Pflegeeltern selbst offen, ehrlich und reflektiert mit Fehlern umgehen, schaffen sie ein Vorbild. Wenn sie fürsorglich reagieren statt strafend, entsteht Vertrauen.

Ein Pflegekind, das zum ersten Mal eine Wahrheit ausspricht, die ihm Angst macht, geht ein Risiko ein. Wenn es in diesem Moment Wärme und Anerkennung erfährt, verändert das etwas Grundlegendes. Dann wird Ehrlichkeit zur Beziehungsqualität – nicht zur moralischen Pflicht.

Ehrlichkeit entsteht in sicheren Beziehungen, nicht durch Kontrolle. Pflegeeltern können in alltäglichen Situationen Ehrlichkeit sichtbar machen: „Ich bin heute ungeduldig, das tut mir leid.“ Oder: „Ich weiß auch nicht alles, aber ich bleibe bei dir.“ Solche Momente schaffen Authentizität und Nähe. Wenn das Kind erlebt, dass Ehrlichkeit nicht zur Trennung führt, sondern zur Verbindung, beginnt es, Vertrauen zu fassen und Wahrheit als etwas Sicheres zu begreifen.

Die Sache mit den „kleinen Lügen“

Pflegekinder erzählen oft Geschichten, die offensichtlich nicht stimmen: „Ich war gestern im Zoo“, obwohl sie daheim waren. Oder: „Meine Mutter hat mir ein Handy gekauft“, obwohl es nicht stimmt. Solche Fantasiegeschichten sind weniger Lüge als Wunsch. Sie zeigen Bedürfnisse, Hoffnungen oder auch das Ringen um Zugehörigkeit.

Hier lohnt es sich nachzufragen: „Das klingt toll – wünschst du dir, dass das so war?“ Oder: „Was wäre, wenn das wirklich so gewesen wäre?“ Auf diese Weise wird das Kind nicht bloßgestellt, sondern eingeladen, zu sich selbst Kontakt aufzunehmen. Fantasie darf Raum haben – solange sie nicht zur bewussten Manipulation wird.

Gerade diese kleinen Unwahrheiten geben Einblick in die innere Welt des Kindes. Es geht nicht um den Wahrheitsgehalt der Aussage, sondern um das Gefühl dahinter: Wunsch nach Anerkennung, Zugehörigkeit, Normalität. Pflegeeltern sollten diesen emotionalen Gehalt ernst nehmen, ohne die Realität zu leugnen. „Du hättest dir gewünscht, dass das stimmt – das verstehe ich.“ Damit wird der Fantasieraum gewürdigt, aber zugleich eine Brücke zur Realität gebaut.

Wenn Lügen Beziehungen belasten

Trotz allem Verständnis: Dauerhaftes Lügen kann das Vertrauen zwischen Pflegeeltern und Kind belasten. Es fühlt sich an wie eine Wand, die echte Nähe verhindert. In solchen Fällen hilft es, das Thema offen anzusprechen, ohne Vorwurf: „Ich merke, dass du manchmal nicht die Wahrheit sagst. Ich wünsche mir, dass wir darüber reden können.“

Es kann auch hilfreich sein, gemeinsam zu überlegen: In welchen Situationen fällt dir die Wahrheit schwer? Was brauchst du, damit du dich sicher fühlst? Solche Gespräche erfordern Ruhe, Vertrauen und Zeit. Sie sind keine einmalige Intervention, sondern ein Prozess.

Wichtig ist, das Kind nicht dauerhaft in eine „Lügnerrolle“ zu drängen. Ein negatives Etikett verfestigt das Verhalten oft eher, als es zu verändern. Stattdessen hilft eine offene, akzeptierende Sprache: „Ich sehe, dass es dir schwerfällt, ehrlich zu sein, und ich will dir helfen, das zu schaffen.“ Beziehung bedeutet, sich auch in schwierigen Momenten gegenseitig auszuhalten. Das Vertrauen kommt oft nicht sofort – aber es kann wachsen.

Grenzen setzen, ohne zu verletzen

Grenzen bedeuten nicht Härte, sondern Klarheit. Wenn Pflegekinder erleben, dass ihr Verhalten Folgen hat, aber ihre Person nicht in Frage gestellt wird, entstehen Sicherheit und Orientierung. Ein liebevoll gesetztes „Das war nicht in Ordnung“ kann mehr bewirken als zehn Appelle. Wichtig ist, immer wieder Brücken zu bauen: „Ich will verstehen, was los war.“ So bleiben Pflegeeltern in Beziehung – auch wenn Regeln überschritten werden.

Pflegekinder, die gelernt haben, dass Strafe bedrohlich ist, brauchen ein anderes Konzept: Beziehung statt Bestrafung, Erklärung statt Ausgrenzung. Wenn Grenzen ruhig, konsequent und mit Beziehung gesetzt werden, wirken sie stärkend.

Wann therapeutische Unterstützung sinnvoll ist

Manchmal helfen Worte allein nicht mehr. Wenn Lügen dauerhaft zum Beziehungshindernis werden oder emotionale Krisen begleiten, ist es hilfreich, externe Unterstützung hinzuzuziehen. Therapeutische Begleitung – ob durch Kinder- und Jugendpsychotherapie, Traumapädagogik oder systemische Beratung – kann neue Wege eröffnen.

Wichtig ist dabei: Das Kind sollte nicht als „Problemfall“ betrachtet werden, sondern als Mensch mit Geschichte. Therapie kann helfen, innere Verletzungen sichtbar zu machen und zu verarbeiten. Auch Pflegeeltern profitieren von Begleitung, etwa durch Supervision, Beratung oder Fortbildung.

Was Pflegekinder eigentlich sagen wollen

Hinter jeder Lüge steckt ein Wunsch. Nach Sicherheit. Nach Verbundenheit. Nach Gesehenwerden. Pflegeeltern, die diesen Wunsch erkennen, verändern nicht nur das Verhalten, sondern die Beziehung.

Pflegekinder wollen oft nicht täuschen – sie wollen schützen. Sich selbst, andere, Beziehungen. Wer das versteht, kann mit Lügen anders umgehen: nicht naiv, aber mitfühlend. Und das ist oft der Anfang von echter Wahrheit.

Fazit: Zwischen Wahrheit und Schutzbedürfnis

Lügen bei Pflegekindern sind selten böse gemeint. Sie sind vielmehr ein Echo vergangener Erfahrungen – ein Versuch, sich vor Ablehnung, Strafe oder Überforderung zu schützen. Wer versteht, dass hinter jeder Unwahrheit ein Bedürfnis steckt, kann empathisch reagieren und Beziehung gestalten. Pflegeeltern brauchen dafür Geduld, Klarheit und emotionale Standfestigkeit – aber sie müssen diese Aufgabe nicht allein bewältigen.

Als Jugendhilfeträger begleiten wir Pflegefamilien auf diesem Weg mit Beratung, Austausch und fachlicher Unterstützung. Denn jedes Kind verdient ein Umfeld, in dem es ehrlich sein darf – und dennoch angenommen bleibt.

Die nächsten Schritte

Wenn wir Ihr Interesse geweckt haben und Sie sich vorstellen können, einem Pflegekind ein neues zuhause zu geben,
nehmen Sie Kontakt mit uns auf. Schreiben Sie uns eine E-Mail: bewerbung@lebensraeume-fh.de
Danach vereinbaren wir einen unverbindlichen Telefontermin. Hier stehen wir Ihnen für alle individuellen Fragen zur Verfügung.

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