Pflegekinder tragen viele Fragen in sich. Die wohl tiefgreifendste lautet: Wer bin ich eigentlich? Denn während andere Kinder sich selbstverständlich mit ihren Wurzeln, ihrer Familie und Herkunft identifizieren können, erleben Pflegekinder oft Brüche, Leerstellen und widersprüchliche Erfahrungen. Die Identitätsentwicklung ist für sie deshalb ein besonders sensibler, manchmal schmerzhafter und immer komplexer Prozess. In diesem Artikel möchten wir aufzeigen, welche Herausforderungen Pflegekinder bei der Suche nach ihrer Identität erleben – und wie Pflegeeltern sie dabei liebevoll, ehrlich und stärkend begleiten können.
Warum Identität für Pflegekinder ein zentrales Thema ist
Identität entsteht im Zusammenspiel aus Selbstbild, sozialen Beziehungen und dem Wissen um die eigene Herkunft. Kinder entwickeln ihr Ich durch Bindung, Nachahmung und Zugehörigkeit. Für Pflegekinder ist dieser Prozess erschwert: Sie wachsen in einem Umfeld auf, das nicht ihr biologisches ist, erleben möglicherweise wechselnde Bezugspersonen und sind mit der Geschichte ihrer Herkunftsfamilie konfrontiert – oft geprägt von psychischen Erkrankungen, Sucht, Gewalt oder Vernachlässigung.
Diese Erfahrungen werfen Fragen auf: Bin ich wie meine Herkunftseltern? Was bedeutet das für mich? Darf ich meine Pflegeeltern lieben, auch wenn ich meine leiblichen Eltern vermisse? Diese inneren Spannungen sind typisch für Pflegekinder – und sie brauchen Menschen, die sie aushalten, einordnen und ernst nehmen.
Zudem spielen gesellschaftliche Zuschreibungen eine Rolle. Wenn ein Kind von außen immer wieder auf seine Herkunft angesprochen wird, etwa durch Kommentare wie „Du bist aber nicht wie deine Pflegeeltern“, kann das zu Verunsicherung führen. Das Selbstbild wird dann nicht nur von der eigenen Wahrnehmung, sondern auch durch die Fremdzuschreibungen geprägt. Pflegekinder brauchen deshalb ein stabiles Gegenüber, das sie nicht nur begleitet, sondern auch in ihrer Einzigartigkeit stärkt – unabhängig von Herkunft und Vergangenheit.
Der Einfluss früher Erfahrungen auf die Selbstwahrnehmung
Frühkindliche Erfahrungen hinterlassen Spuren. Kinder, die Vernachlässigung, Missbrauch oder instabile Lebensumstände erlebt haben, entwickeln oft ein unsicheres oder negatives Selbstbild. Dieses „innere Bild“ wirkt unbewusst weiter – auch dann, wenn das Kind längst in einer liebevollen Pflegefamilie lebt. Aussagen wie „Ich bin nichts wert“ oder „Ich bin zu schwierig“ sind nicht selten. Sie stammen nicht aus der Realität der Pflegefamilie, sondern aus den tief eingeprägten Erfahrungen früher Bindungsabbrüche oder emotionaler Zurückweisungen.
Pflegeeltern sollten sich dieser inneren Dynamik bewusst sein. Sie ist kein Misstrauensvotum gegenüber ihrer Erziehung, sondern Ausdruck eines langen, inneren Lernprozesses. Die Identitätsarbeit beginnt oft mit der Erlaubnis, diese verletzten Selbstbilder zeigen zu dürfen – und ihnen behutsam neue Erfahrungen entgegenzusetzen.
Auch die emotionale Resonanz der Pflegeeltern spielt dabei eine wichtige Rolle. Wenn sie dem Kind vermitteln: „Du darfst hier so sein, wie du bist, mit allem, was dich ausmacht“, entsteht langsam ein neues Selbstbild. Die tägliche liebevolle Zuwendung, kleine Erfolge und das Gefühl, angenommen zu sein, sind die Bausteine eines neuen inneren Selbstwertes.
Herkunft wertschätzen – ohne zu beschönigen
Ein entscheidender Bestandteil der Identitätsentwicklung ist die Auseinandersetzung mit der Herkunft. Dabei ist es wichtig, ehrlich und altersgerecht über die leiblichen Eltern zu sprechen – auch wenn deren Geschichte von Problemen geprägt ist. Pflegekinder haben ein Recht auf ihre Herkunft, ihre Eltern und ihre Geschichte. Sie sind nicht nur ein Teil ihrer Pflegefamilie, sondern tragen beides in sich.
Das bedeutet nicht, schwierige Aspekte zu beschönigen. Aber es bedeutet, das Kind nicht mit Schuldgefühlen, Loyalitätskonflikten oder einem Schwarz-Weiß-Denken allein zu lassen. Aussagen wie „Deine Mutter war krank, aber sie hat dich geliebt, so gut sie konnte“ oder „Dein Vater konnte sich nicht kümmern, aber du bist deswegen kein schlechtes Kind“ helfen, widersprüchliche Gefühle zu integrieren.
Ebenso sollten Pflegeeltern nicht aus Angst vor Verletzung ganz auf Gespräche verzichten. Kinder spüren ohnehin, wenn Themen tabuisiert werden – und das erzeugt Unsicherheit. Offenheit, verbunden mit Schutz und emotionaler Begleitung, gibt dem Kind das Gefühl: Meine Geschichte gehört zu mir, und ich darf sie erzählen.
Biografiearbeit als Weg zur Selbstverortung
Biografiearbeit ist ein zentraler Baustein in der Identitätsentwicklung von Pflegekindern. Fotos, Geschichten, Lebensbücher oder Erinnerungsgegenstände helfen dabei, Lücken zu füllen und Zusammenhänge zu verstehen. Das Ziel ist nicht, eine glatte Erzählung zu konstruieren, sondern dem Kind seine eigene Geschichte in kindgerechter Form zugänglich zu machen – mit Brüchen, mit Fragen, mit offenen Stellen.
Pflegeeltern können Biografiearbeit aktiv unterstützen, etwa durch gemeinsames Basteln eines Lebensbuchs, durch Fragen an das Kind oder durch das Sammeln von Informationen über die Zeit vor dem Einzug. Dabei ist es wichtig, dass das Kind selbst entscheidet, was es wann thematisieren möchte. Identitätsarbeit braucht Freiwilligkeit, Vertrauen und Zeit.
Besonders hilfreich kann es sein, die Biografiearbeit ritualisiert in den Alltag zu integrieren – etwa durch feste Zeiten im Monat, an denen das Lebensbuch gemeinsam betrachtet und ergänzt wird. So wird das Thema nicht mit einem Problem gleichgesetzt, sondern als Teil des normalen Familienlebens verstanden. Auch kreative Methoden wie Collagen, Zeichnungen oder Fotos können helfen, Gefühle auszudrücken, für die es (noch) keine Worte gibt.
Die Bedeutung von Sprache und Erzählung
Wie über das Leben des Kindes gesprochen wird, prägt sein Selbstverständnis. Worte wie „abgegeben“ oder „versagt“ können verletzen, auch wenn sie nicht böse gemeint sind. Stattdessen helfen Formulierungen, die würdigen und erklären: „Deine Eltern konnten sich nicht gut um dich kümmern, deshalb lebst du jetzt bei uns.“
Auch der Ton macht viel aus: Nicht mitleidig, sondern respektvoll. Nicht beschönigend, sondern ehrlich. Kinder spüren sehr genau, ob sie ernst genommen werden – oder ob über sie hinweggeredet wird. Eine wertschätzende Sprache ist deshalb ein machtvolles Werkzeug in der Identitätsbegleitung.
Pflegeeltern als stabile Spiegel der Identität
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Pflegeeltern übernehmen in der Identitätsentwicklung eine zentrale Rolle. Sie sind Spiegel, Resonanzraum und Schutzraum zugleich. Durch die Beziehung zu ihnen entwickelt das Kind ein neues Selbstbild: Ich bin wertvoll. Ich bin gewollt. Ich bin nicht falsch.
Dazu gehört auch, dass Pflegeeltern Ambivalenzen aushalten: Dass das Kind seine Herkunft lieben und gleichzeitig Nähe zur Pflegefamilie aufbauen darf. Dass es seine leiblichen Eltern vermisst, auch wenn es bei der Pflegefamilie sicher ist. Und dass es sich selbst manchmal nicht versteht – aber trotzdem geliebt wird. Dieses Aushalten ist nicht immer leicht, aber es ist identitätsstärkend.
Jugendliche in der Pflege: Identität in der Krise?
Besonders in der Pubertät spitzt sich die Identitätsfrage zu. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Was will ich vom Leben? Pflegejugendliche stehen dann vor einer doppelten Herausforderung: Sie müssen ihren Platz in der Gesellschaft finden – und sich gleichzeitig mit ihrer Vergangenheit versöhnen.
Manche beginnen, Kontakt zur Herkunftsfamilie zu suchen, andere rebellieren gegen die Pflegeeltern oder ziehen sich zurück. Diese Phasen sind nicht bedrohlich, sondern notwendig. Sie zeigen, dass das Kind sich auf den Weg macht – mit allen Umwegen, die dazugehören. Pflegeeltern sollten in dieser Zeit besonders geduldig, offen und präsent bleiben – als verlässliche Begleiter auf dem Weg zur Selbstfindung.
Die Rolle der Schule und des sozialen Umfelds
Identität entsteht auch im sozialen Kontext. Was in der Schule über Pflegekinder gesagt wird, welche Fragen andere Kinder stellen oder wie Erwachsene reagieren, beeinflusst massiv das Selbstbild. Wenn Lehrkräfte, Mitschüler oder Nachbarn stigmatisierend oder neugierig-übergriffig auftreten, kann das kränken oder verunsichern.
Pflegeeltern können ihr Kind stärken, indem sie über solche Situationen sprechen, es vorbereiten und gemeinsam Formulierungen erarbeiten: „Ich wohne in einer Pflegefamilie, weil meine Eltern krank sind.“ Oder: „Meine Eltern konnten sich nicht kümmern – jetzt lebe ich hier.“ Offenheit kann helfen, wenn sie selbstbestimmt ist.
Pflegekinder mit Migrationshintergrund
Eine besondere Herausforderung ergibt sich für Pflegekinder mit Migrationshintergrund, wenn die Pflegefamilie eine andere kulturelle Identität lebt. Sprache, Religion, Traditionen oder Hautfarbe können zu einem zusätzlichen Spannungsfeld werden – oder zu einer Quelle der Stärkung, wenn sie wertschätzend eingebunden werden.
Pflegeeltern können hier gezielt Räume schaffen: Bücher in der Muttersprache, Kontakte zur Community, interkulturelle Feste oder das gemeinsame Kochen von traditionellen Gerichten. So wird das Anderssein nicht zum Defizit, sondern zur Ressource. Identität darf vielfältig sein – und Pflegefamilien können dabei Brückenbauer sein.
Wenn Identitätsfragen zu Krisen führen
Nicht jedes Kind findet sofort einen stabilen inneren Ort. Identitätsfragen können verunsichern, Ängste wecken oder zu Rückzug und Aggression führen. In manchen Fällen sind therapeutische Angebote sinnvoll – z. B. traumasensible Kindertherapie, systemische Beratung oder kunsttherapeutische Ansätze. Ziel ist nicht die „Reparatur“, sondern die Begleitung im Prozess.
Wichtig ist: Pflegeeltern müssen diese Wege nicht allein gehen. Träger, Fachkräfte, Beratungsstellen und Therapeutinnen können unterstützen – fachlich und emotional. Gemeinsam lässt sich das Kind dabei begleiten, sich selbst anzunehmen und seinen Platz im Leben zu finden.
Fazit: Identität braucht Wurzeln und Flügel
Pflegekinder haben das Recht, ihre Geschichte zu kennen – und das Bedürfnis, sich selbst zu verstehen. Identität ist kein fertiges Produkt, sondern ein lebenslanger Prozess. Pflegeeltern können diesen Weg begleiten, indem sie offen, ehrlich und zugewandt sind. Indem sie nicht urteilen, sondern aushalten. Indem sie Herkunft wertschätzen, Bindung ermöglichen und Sprache achtsam nutzen.
Als Jugendhilfeträger sehen wir unsere Aufgabe darin, Pflegefamilien bei dieser wichtigen Aufgabe zu unterstützen – mit Fachwissen, Empathie und konkreten Hilfen. Denn jedes Kind hat das Recht, zu wissen, wer es ist – und zu erfahren, dass es wertvoll ist.
Die nächsten Schritte
Wenn wir Ihr Interesse geweckt haben und Sie sich vorstellen können, einem Pflegekind ein neues zuhause zu geben,
nehmen Sie Kontakt mit uns auf. Schreiben Sie uns eine E-Mail: bewerbung@lebensraeume-fh.de
Danach vereinbaren wir einen unverbindlichen Telefontermin. Hier stehen wir Ihnen für alle individuellen Fragen zur Verfügung.