Leben mit FASD: Alltag, Herausforderungen und kleine Erfolge

Illustration eines Jungen mit einem Spielzeugflugzeug in der Hand – Symbol für den Alltag, die Herausforderungen und kleinen Erfolge von Kindern mit FASD.

Ein Einblick in den Alltag mit einem Kind, das mit fetaler Alkoholspektrumstörung (FASD) lebt – und was Familien trotz aller Hürden stärkt.

FASD ist eine unsichtbare Behinderung mit sichtbaren Folgen. Pflegeeltern, die ein Kind mit FASD begleiten, stehen täglich vor kleinen und großen Herausforderungen. Gleichzeitig erleben sie auch berührende Momente, mutige Schritte und stille Erfolge. In diesem Artikel teilen wir Einblicke in das Leben einer Pflegefamilie, zeigen, was funktioniert – und wo Grenzen sind. Unser Ziel ist es, Hoffnung zu machen und praktische Impulse zu geben.

Der Start: Ein neues Familienmitglied mit besonderer Geschichte

Als Paul (Name geändert) mit drei Jahren in seine Pflegefamilie kam, war schnell klar: Dieses Kind braucht mehr als nur Liebe. Die Nächte waren unruhig, Wutanfälle an der Tagesordnung. Seine neue Familie wusste zunächst nichts von einer möglichen FASD-Diagnose – doch die Symptome waren auffällig. Es war nicht einfach, einen Zugang zu Paul zu finden. Körperliche Nähe verunsicherte ihn, Regeln lösten Trotzreaktionen aus, Routinen mussten ständig wiederholt werden.

Mit der Zeit wurde klar: Hier geht es nicht um Erziehung im klassischen Sinn – sondern um Beziehung, um Sicherheit, um Verlässlichkeit. Paul testete Grenzen, aber nicht aus Bosheit. Vieles war Ausdruck innerer Not, neurologischer Reizüberflutung und mangelnder Impulskontrolle. Seine Pflegeeltern begannen, sich intensiv über FASD zu informieren und professionelle Hilfe zu suchen. Das war der erste Schritt in ein neues Verständnis.

Alltag mit Struktur – warum klare Abläufe so wichtig sind

Kinder mit FASD brauchen feste Strukturen. Der Alltag in Pauls Familie wurde daher Stück für Stück neu organisiert. Es gab immer denselben Tagesablauf, visuelle Pläne, Wiederholungen. So wusste Paul, was auf ihn zukommt – und konnte sich besser orientieren. Neue Situationen wurden vorher besprochen, visualisiert und eingeübt.

Doch Struktur bedeutet nicht Starrheit. Es geht um Orientierung, nicht um Strenge. Die Pflegeeltern merkten schnell, dass Paul sehr sensibel auf Veränderungen reagierte. Ein spontaner Ausflug oder eine ungeplante Abweichung konnte zu einem vollständigen Kontrollverlust führen. Deshalb lernten sie, vorausschauend zu planen, Übergänge langsam zu gestalten und Paul frühzeitig einzubeziehen. Dieser strukturierte Alltag wurde zur tragenden Säule ihres Zusammenlebens.

Kommunikation: Weniger ist mehr

Kinder mit FASD verarbeiten Sprache anders. Lange Erklärungen oder doppelte Verneinungen verwirrten Paul schnell. Seine Pflegeeltern begannen daher, kurze und klare Sätze zu verwenden: „Jacke anziehen.“ „Jetzt Frühstück.“ „Später Tablet.“ Begleitet wurde das Ganze durch Gesten und Blickkontakt.

Wichtig war auch die Wiederholung. Paul brauchte viele Anläufe, um Abläufe zu verinnerlichen. Seine Pflegeeltern lernten, Geduld zu haben – und nicht alles persönlich zu nehmen. Wenn Paul nicht sofort reagierte oder die Aufgabe „vergessen“ hatte, war das kein Unwille, sondern neurologisch bedingt. Gleichzeitig begannen sie, Erklärungen für Pauls Verhalten auch nach außen zu geben, etwa im Kindergarten oder im Familienkreis. Das schuf Verständnis und nahm Druck.

Emotionale Achterbahn – wie Gefühle reguliert werden können

FASD-Kinder zeigen oft extreme Gefühlsausbrüche. Freude kann in Sekunden in Wut kippen, Frustration in Verzweiflung. Paul hatte große Schwierigkeiten, seine Emotionen zu regulieren. Für seine Pflegeeltern bedeutete das, immer wieder deeskalierend einzugreifen: nicht mit Strafen, sondern mit Nähe, mit Rückzugsmöglichkeiten, mit Ritualen.

Sie schufen Rückzugsorte in der Wohnung, benannten Gefühle gemeinsam mit Paul („Du bist gerade sehr wütend“) und boten Berührungen nur an, wenn er sie zuließ. Auch nonverbale Zeichen wurden geübt: ein Daumen nach oben, ein Symbol für „Ich brauche eine Pause“. In hitzigen Momenten half oft nur: ruhig bleiben, aushalten, später darüber sprechen.

Diese Art von emotionaler Begleitung ist anstrengend – aber sie wirkt. Paul lernte, dass seine Gefühle sein dürfen. Dass er nicht falsch ist, weil er „ausrastet“. Und dass er Hilfe bekommt, ohne verurteilt zu werden.

Schule und Lernen – wenn der Rahmen nicht passt

Pauls Weg in die Schule war holprig. Schon im Kindergarten war deutlich geworden, dass er in Gruppen überfordert war. In der Regelschule verstärkten sich die Probleme: Konzentrationsschwierigkeiten, impulsives Verhalten, Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Die Lehrerinnen wussten zunächst wenig über FASD. Es kam zu Missverständnissen – und zu Rückmeldungen wie: „Er muss sich einfach mehr anstrengen.“

Die Pflegeeltern setzten sich für Paul ein, organisierten Gespräche mit der Schulleitung und Schulsozialarbeit. Sie erklärten Pauls Bedürfnisse, brachten Atteste ein und beantragten Schulbegleitung. Nach langen Wegen fand sich schließlich ein passender Rahmen: eine Förderschule mit traumapädagogischem Konzept. Paul blühte auf. Die kleine Klassengröße, feste Bezugspersonen und klare Strukturen halfen ihm enorm. Trotzdem blieben Hausaufgaben ein Kraftakt, Schulverweigerung ein Thema. Aber der neue Rahmen war ein Anfang.

Beziehungen aufbauen – Bindung braucht Zeit

Paul fiel es schwer, Beziehungen zu vertrauen. Er hatte erlebt, dass Erwachsene gehen. Dass Nähe wehtun kann. Seine Pflegeeltern wussten: Bindung entsteht nicht durch Worte – sondern durch tägliche, verlässliche Erfahrung. Also blieben sie da. Jeden Tag. Auch wenn Paul sie beschimpfte, wegging, sie ignorierte.

Sie waren zuverlässig, erklärten Abläufe, hielten Versprechen. Kleine Rituale halfen: gemeinsames Frühstück, Vorlesen am Abend, ein immer gleiches Gute-Nacht-Lied. Nach und nach entstanden zarte Bande. Paul begann, nach seiner Pflegemutter zu rufen, wenn er krank war. Er kam auf den Schoß, wenn er traurig war. Das Vertrauen wuchs – nicht linear, aber spürbar.

Gleichzeitig blieb die Ambivalenz: Liebe und Ablehnung, Nähe und Rückzug. Die Pflegeeltern lernten, das auszuhalten. Es war kein Zeichen des Scheiterns – sondern Teil von Pauls Überlebensstrategie. Diese Bindungsarbeit war emotional herausfordernd, aber der Schlüssel für alles Weitere.

Unterstützung durch Fachkräfte – Netzwerke aufbauen

Allein hätten Pauls Pflegeeltern das nicht geschafft. Früh suchten sie sich Unterstützung: durch eine FASD-Ambulanz, durch Traumatherapie, durch eine aufsuchende Familienhilfe. Sie nahmen an Schulungen teil, tauschten sich mit anderen Pflegeeltern aus und bauten sich ein stabiles Helfernetz auf.

Das war nicht immer einfach. Es gab Wartezeiten, Missverständnisse, Wechsel. Aber langfristig war dieses Netz ein tragender Faktor. Es gab ihnen Halt, Wissen und Entlastung. Besonders hilfreich war eine Fachkraft, die Paul über Jahre begleitete und auch der Schule als Ansprechpartner zur Verfügung stand. Solche Personen sind oft die „unsichtbaren Helden“ im Alltag mit FASD.

Kleine Erfolge feiern – was wirklich zählt

In einem Alltag mit FASD können Fortschritte winzig wirken – und sind doch riesig. Als Paul zum ersten Mal allein seine Schuhe anzog, war das ein Meilenstein. Als er in der Schule einen „guten Tag“ hatte – Grund zum Feiern. Die Pflegeeltern lernten, diese Momente bewusst wahrzunehmen und zu würdigen. Nicht mit großen Belohnungen, sondern mit Anerkennung, mit einem Lächeln, mit Stolz.

Gleichzeitig lernten sie, Rückschritte auszuhalten. Gute Tage wechselten sich mit Krisen ab. Sie mussten ihre Erwartungen immer wieder anpassen. Und dabei nicht den Mut verlieren. Diese innere Haltung – Hoffnung trotz allem – war vielleicht ihr größter Erfolg.

Grenzen anerkennen – Pflegeeltern sind keine Heiler

Trotz aller Bemühungen blieben manche Probleme bestehen. Paul wird wahrscheinlich ein Leben lang mit bestimmten Einschränkungen leben müssen. Seine Pflegeeltern haben gelernt, das anzunehmen. Sie sind nicht verantwortlich für Heilung – sondern für Begleitung.

Diese Erkenntnis nahm ihnen viel Druck. Sie hörten auf, sich zu vergleichen, sich zu rechtfertigen, zu zweifeln. Stattdessen fragten sie sich: Was ist heute möglich? Wie können wir den Tag gestalten? Was braucht Paul – und was brauchen wir?

Grenzen zu sehen bedeutet nicht, aufzugeben. Es bedeutet, realistisch und liebevoll zu handeln. Und sich selbst nicht zu vergessen.

Selbstfürsorge: Nur wer auf sich achtet, kann gut begleiten

Die Pflegeeltern von Paul haben von Anfang an gelernt, dass sie selbst Teil des Systems sind. Sie brauchen Pausen, Austausch, Verständnis. Regelmäßige Gespräche mit anderen Pflegefamilien, therapeutische Begleitung, Auszeiten als Paar – all das wurde Teil ihres Alltags.

Es ist kein Zeichen von Schwäche, Hilfe anzunehmen. Es ist ein Zeichen von Stärke. Denn nur wer selbst stabil ist, kann ein sicherer Hafen sein. Die Pflegeeltern haben gelernt: Paul braucht keine perfekten Eltern. Sondern verlässliche. Und sie dürfen selbst Unterstützung brauchen – genau wie er.

Fazit: Leben mit FASD ist herausfordernd – und trotzdem voller Sinn

Der Alltag mit einem FASD-Kind verlangt viel: Geduld, Wissen, Struktur und emotionale Stärke. Aber er schenkt auch: Nähe, Entwicklung, Beziehung. Pflegeeltern wie die von Paul leisten Unglaubliches – oft im Verborgenen. Sie zeigen, was möglich ist, wenn man nicht aufgibt.

Als Jugendhilfeträger sehen wir unsere Aufgabe darin, Familien mit FASD-Kindern zu unterstützen – durch Fachwissen, Vernetzung, Begleitung und ganz praktische Hilfe im Alltag. Denn jedes Kind verdient die Chance, sein Potenzial zu entfalten – und jede Familie das Gefühl, nicht allein zu sein.

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