
In der Diskussion rund um Pflegekinder stehen oft die Pflegeeltern, Fachkräfte und Jugendhilfeträger im Zentrum. Doch eine Stimme wird selten gehört: die der leiblichen Eltern. Dabei sind sie ein wichtiger Teil im Leben der Kinder und erleben die Unterbringung in einer Pflegefamilie auf ganz eigene Weise. In diesem Artikel werfen wir einen einfühlsamen Blick auf ihre Perspektive: Was denken Herkunftseltern über die Pflegefamilien ihrer Kinder? Was bewegt sie, welche Vorurteile bestehen auf beiden Seiten – und wie kann ein konstruktiver Umgang gelingen? Basierend auf anonymisierten Gesprächen, Erfahrungswerten aus der Jugendhilfe und Fallbeispielen wollen wir diesen selten beleuchteten Blickwinkel verständlich machen.
Es ist, als hätte man mir mein Kind weggenommen
Der Schmerz über den Verlust der elterlichen Rolle ist oft tief und kaum in Worte zu fassen. Viele Herkunftseltern berichten von einem Gefühl der Ohnmacht und des Versagens. Selbst wenn sie rational verstehen, warum ihr Kind nicht mehr bei ihnen leben kann, bleibt emotional das Gefühl, nicht genug gewesen zu sein. Die Pflegefamilie wird dann zunächst nicht als Hilfe, sondern als Konkurrenz erlebt.
Eine Mutter sagte im Gespräch: „Ich weiß, dass mein Sohn dort sicher ist. Aber es tut weh, dass er sie Mama nennt.“ Solche Aussagen zeigen, wie eng Schmerz, Scham und Eifersucht miteinander verknüpft sind. Pflegefamilien können diesen Gefühlen mit Respekt und Zurückhaltung begegnen. Ein wertschätzender Umgang auf Augenhöhe kann helfen, diese Verletzungen nicht noch zu vertiefen.
„Ich hatte Angst, sie nehmen mir mein Kind ganz weg“
Auch wenn eine Herausnahme offiziell nur vorübergehend ist, entsteht bei vielen Herkunftseltern die Sorge, dass es auf eine Dauerlösung hinausläuft. Dieses Misstrauen wird oft durch mangelnde Information oder wenig Einbindung verstärkt. Eltern fühlen sich aus dem Leben ihres Kindes ausgeschlossen und erleben Gespräche mit Fachkräften als kontrollierend oder abwertend.
Ein anonymisiertes Fallbeispiel zeigt: Eine Mutter berichtete, dass sie monatelang keine Fotos oder Informationen erhielt. Sie empfand das Schweigen als Strafe. Erst durch einen begleiteten Gesprächskreis konnte sie wieder Vertrauen aufbauen. Pflegefamilien, die aktiv und offen kommunizieren, können hier viel zur Deeskalation beitragen.
Ich habe mich wie die Versagerin gefühlt
Herkunftseltern berichten häufig von Scham und Selbstverurteilung. In einer Gesellschaft, in der Elternschaft mit Erfolg gleichgesetzt wird, ist das Eingeständnis, Hilfe zu brauchen, mit vielen Schuldgefühlen verbunden. Wenn das eigene Kind in eine Pflegefamilie kommt, wird dies als persönliches Scheitern empfunden – selbst wenn die Entscheidung aus Kinderschutzgründen getroffen wurde.
Eine Mutter formulierte es so: „Ich wollte doch nur, dass es meinem Kind gut geht. Aber ich habe es nicht geschafft.“ Pflegefamilien, die nicht bewerten, sondern anerkennen, was war, können diesen Eltern Würde zurückgeben. Empathie statt Urteil macht den Unterschied.
„Sie wirken so perfekt – ich kann da nie mithalten“
Pflegeeltern wirken auf Herkunftseltern häufig wie ein Gegenbild zur eigenen Biografie: stabil, gebildet, sicher. Das kann bewundernd, aber auch einschüchternd empfunden werden. Besonders wenn Herkunftseltern psychische Erkrankungen, Armut oder Suchtproblematiken erleben, entsteht schnell das Gefühl: „Ich bin nicht gut genug.“
Diese Dynamik ist eine Quelle von Spannungen. Pflegeeltern, die sich nicht als „Retter“ positionieren, sondern offen für Gespräche sind, nehmen diesem Eindruck die Spitze. Gemeinsame Gespräche mit Fachkräften helfen, Rollenbilder zu hinterfragen und eine respektvolle Koexistenz zu ermöglichen.
„Ich bin dankbar – aber es ist schwer“
Nicht alle Herkunftseltern empfinden nur Schmerz. Viele sind auch erleichtert, dass ihr Kind nun in Sicherheit ist. Sie wissen um ihre eigenen Grenzen und sehen die Pflegefamilie als Chance. Und doch bleibt die ambivalente Gefühlslage: Dankbarkeit und Trauer, Erleichterung und Eifersucht.
Ein Vater sagte: „Ich bin froh, dass sie dort zur Schule geht, Freunde hat, ein eigenes Zimmer. Aber ich wünschte, ich könnte das alles selbst geben.“ Pflegefamilien sollten diese Ambivalenz nicht werten, sondern anerkennen. Gefühle dürfen nebeneinander stehen.
Manchmal wünsche ich mir mehr Kontakt
Besuchsregelungen, Kontaktzeiten oder der Austausch zwischen Pflegefamilie und Herkunftseltern sind oft von Institutionen geregelt. Dabei bleiben Bedürfnisse auf beiden Seiten manchmal auf der Strecke. Viele leibliche Eltern wünschen sich mehr Einbindung, mehr Informationen oder mehr Gelegenheiten, an der Entwicklung ihres Kindes teilzuhaben.
Eine Mutter formulierte es so: „Ich weiß nicht mal, was sie gerade für Hobbys hat oder wie sie in der Schule ist. Ich bin ihre Mutter, aber ich fühle mich wie eine Fremde.“ Transparente Kommunikation, kleine Einblicke in den Alltag und ein wertschätzender Umgang in Besuchskontakten können helfen, diesen Wunsch zu berücksichtigen.
„Ich habe Angst, dass sie mich vergisst“
Die größte Angst vieler Herkunftseltern ist der dauerhafte Verlust der Bindung. Besonders kleine Kinder, die sich rasch an neue Bezugspersonen binden, scheinen sich zu entfremden. Eltern erleben, dass ihre Kinder zur Pflegefamilie „gehören“, während sie selbst an den Rand rücken.
Pflegefamilien können dem aktiv begegnen: durch ehrliche Benennung der Herkunft, durch Fotos, Geschichten oder das offene Zulassen von Gesprächen über Mama und Papa. Herkunft gehört zur Identität. Wenn Pflegefamilien dies respektieren, bleibt auch die Bindung bestehen.
Ich wünsche mir, dass sie mir nichts übelnehmen
Viele Herkunftseltern machen sich große Vorwürfe: „Was, wenn mein Kind mir später nicht verzeihen kann?“ Diese Sorge lastet schwer. Pflegeeltern können helfen, indem sie sich neutral zu Herkunftseltern äußern, keine Schuldzuweisungen machen und eine Brücke bauen.
Kinder spüren genau, wenn über Herkunft mit Respekt gesprochen wird. Das eröffnet ihnen die Möglichkeit, eigene Bilder zu entwickeln, statt zwischen Loyalitäten zu zerrissen zu werden. Langfristig profitieren alle Beteiligten von dieser Haltung.
Ich habe mich nie gesehen gefühlt
Der Dialog zwischen Pflegefamilien und Herkunftseltern ist oft schwierig. Fehlende Gesprächsanlässe, Sprachbarrieren oder belastete Vorgeschichten erschweren eine gute Kommunikation. Viele Herkunftseltern fühlen sich wie Statisten im Leben ihres Kindes.
Ein Perspektivwechsel hilft: Auch wenn der Kontakt belastet ist, lohnt sich der Versuch, den anderen zu sehen. Pflegefamilien müssen keine Freundschaft anbieten – aber Respekt, Offenheit und ein Minimum an Kommunikation. Das kann viel bewirken.
Ich hoffe, dass sie glücklich ist – auch wenn nicht bei mir
Am Ende eint alle Eltern ein Wunsch: Dass es ihrem Kind gut geht. Viele leibliche Eltern haben gelernt, dass Liebe auch loslassen heißt. Sie bleiben innerlich verbunden, auch wenn der Alltag fehlt.
Ein Vater sagte: „Ich denke jeden Abend an sie. Ich hoffe, dass sie weiß, dass ich sie liebe – auch wenn ich gerade nicht für sie sorgen kann.“ Diese Liebe anzuerkennen, auch als Pflegefamilie, bedeutet, das Kind in seiner Ganzheit zu sehen. Und das ist die beste Basis für gelingende Entwicklung.
Fazit: Herkunftseltern sehen, statt über sie zu urteilen
Wenn wir über Pflegekinder sprechen, stehen meist deren Bedürfnisse und das Handeln von Pflegeeltern im Mittelpunkt – zu Recht. Doch wer einen ganzheitlichen Blick auf das System Pflegefamilie werfen möchte, darf die Perspektive der leiblichen Eltern nicht ausklammern. Auch wenn sie aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage waren oder sind, ihre Kinder selbst zu erziehen, sind sie doch wichtige Bezugspersonen im Leben des Kindes – und tief mit dessen Identität verwoben.
Die Stimmen der Herkunftseltern sind oft leise, bruchstückhaft oder belastet von Scham, Schuld, Wut und Ohnmacht. Doch genau darin liegt die Bedeutung: Diese Gefühle sind real, menschlich und nachvollziehbar – vor allem dann, wenn man bedenkt, dass viele leibliche Eltern selbst traumatische Biografien, psychische Erkrankungen oder Suchterfahrungen mitbringen. Ihre Haltung gegenüber Pflegefamilien ist deshalb oft ambivalent: einerseits geprägt von Dankbarkeit, andererseits durchsetzt mit Misstrauen, Verlustgefühlen oder dem Gefühl des „Ersetztwerdens“.
Ein echter Perspektivwechsel bedeutet nicht, das Handeln von Herkunftseltern zu beschönigen oder zu idealisieren. Aber es bedeutet, sie als Teil der Lebensgeschichte des Kindes anzuerkennen – mit ihrer Sicht, ihrer Geschichte und ihren Gefühlen. Es bedeutet, ihnen zuzuhören, ohne zu urteilen. Und es bedeutet, Pflegefamilien zu ermutigen, Brücken zu bauen – dort, wo es möglich und sinnvoll ist.
Denn in der Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Pflegeeltern liegt auch eine Chance: für mehr Verständnis, mehr Stabilität im Leben des Kindes und vielleicht sogar für kleine Versöhnungsschritte. Als Jugendhilfeträger möchten wir genau diesen Dialog fördern – fachlich begleitet, professionell moderiert und immer im Sinne des Kindeswohls.Wir ermutigen wir Pflegefamilien dazu, Herkunftseltern nicht als „Problem“ zu sehen, sondern als Teil der Geschichte des Kindes. Mit Empathie, Offenheit und klarer Haltung kann ein respektvoller Umgang gelingen – im Sinne des Kindes.