Pflegefamilien leisten tagtäglich Großes – oft im Verborgenen. Sie geben Kindern, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können, ein Zuhause auf Zeit oder auf Dauer. Doch trotz ihres gesellschaftlich wichtigen Beitrags werden Pflegeeltern oft mit Vorurteilen, Missverständnissen oder Halbwissen konfrontiert. Aussagen wie „Dafür bekommt ihr doch Geld“, „Das ist doch wie ein eigenes Kind“ oder „Pflegekinder sind alle schwierig“ begegnen Pflegeeltern nicht selten im Alltag.
In diesem Artikel klären wir als erfahrener Jugendhilfe-Träger über weitverbreitete Mythen auf, zeigen die Realität hinter dem Pflegealltag und geben Pflegefamilien Argumente an die Hand, um Unverständnis konstruktiv zu begegnen. Denn Aufklärung stärkt – und öffnet Türen für echte Anerkennung.
Mythos 1: Pflegeeltern machen das nur fürs Geld
Einer der häufigsten Vorurteile ist die Annahme, Pflegeeltern würden Pflegekinder aufnehmen, um „sich etwas dazu zu verdienen“. Tatsache ist: Pflegeeltern erhalten Pflegegeld – aber dieses dient zur Deckung des Bedarfs des Kindes (z. B. Kleidung, Essen, Schulsachen) und enthält einen Erziehungsbeitrag. Es handelt sich um eine pauschale Leistung – keine Bezahlung im klassischen Sinne.
Das Engagement als Pflegefamilie ist kein lukrativer Nebenjob. Es erfordert Zeit, emotionale Stabilität, Fachwissen und die Bereitschaft, ein Kind mit einer besonderen Geschichte in den Alltag zu integrieren. Die Motivation von Pflegeeltern ist in aller Regel von Mitgefühl, sozialem Engagement und Verantwortungsbewusstsein getragen – nicht von finanziellen Interessen. Das Pflegegeld stellt sicher, dass das Kind gut versorgt ist – es ersetzt aber nicht die intensive Fürsorge, die Pflegeeltern täglich leisten. Pflegeeltern verzichten häufig auf berufliche Freiheiten oder private Rückzugsräume, um dem Kind Stabilität zu geben. Wer Pflegefamilien auf das Pflegegeld reduziert, verkennt den Wert ihrer Aufgabe.
Mythos 2: Pflegekinder sind undankbar oder „schwierig“
Viele Menschen gehen davon aus, dass Pflegekinder automatisch „Problemkinder“ sind. Dabei wird oft übersehen, dass ihre Verhaltensweisen Ausdruck traumatischer Erfahrungen sind: Missbrauch, Vernachlässigung, häufige Beziehungsabbrüche. Diese Kinder haben nicht „einfach nur schlechte Manieren“, sondern tragen seelische Lasten.
Pflegeeltern wissen, dass Auffälligkeiten wie Rückzug, Wutausbrüche oder Bindungsschwierigkeiten Schutzstrategien sind. Es braucht Zeit, Geduld und Verständnis, um Vertrauen aufzubauen. Wer Pflegekinder pauschal als „schwierig“ bezeichnet, ignoriert ihre Lebensrealität – und die enorme Leistung, die Pflegefamilien tagtäglich erbringen. Viele dieser Kinder zeigen in stabilen Umfeldern erstaunliche Entwicklungsfortschritte. Ihre vermeintliche „Undankbarkeit“ ist oft tiefes Misstrauen, das aus wiederholtem Verlassenwerden resultiert. Pflegekinder testen Beziehungen, weil sie wissen wollen, ob sie wirklich halten. Das erfordert emotionale Reife und einen langen Atem von Pflegeeltern. Wer hinsieht, erkennt: hinter auffälligem Verhalten steckt meist eine verletzte Kinderseele.
Mythos 3: Ein Pflegekind ist wie ein eigenes Kind
Auch wenn Pflegeeltern oft eine enge Bindung zum Pflegekind aufbauen, ist das Verhältnis rechtlich und emotional nicht mit dem zu einem leiblichen Kind gleichzusetzen. Pflegeeltern haben kein Sorgerecht – wichtige Entscheidungen trifft ein Vormund oder die leiblichen Eltern (sofern das Sorgerecht noch ganz oder teilweise besteht).
Zudem haben Pflegekinder oft lebenslange emotionale Verbindungen zur Herkunftsfamilie. Pflegeeltern sind keine Ersatzeltern, sondern eine ergänzende Bezugsperson auf Zeit oder Dauer – je nach Perspektive der Hilfe. Diese besondere Rolle verlangt Achtsamkeit, Demut und Reflexion. Die Beziehung zu einem Pflegekind kann sehr intensiv sein, ist aber in ihrer Tiefe und rechtlichen Absicherung anders gelagert. Pflegeeltern müssen akzeptieren, dass sie für das Kind wichtige Bezugspersonen sein können, ohne jemals „Mama“ oder „Papa“ im klassischen Sinne zu werden. Diese Balance zu halten, ist eine tägliche Herausforderung. Gleichzeitig ist diese Rolle unglaublich wertvoll – gerade weil sie dem Kind Sicherheit gibt, ohne etwas zu verdrängen. Pflegeelternschaft ist eine Haltung, kein Besitzanspruch.
Mythos 4: Das ist bestimmt wie ein kleines Sozialprojekt
Pflegeeltern werden manchmal mit einem unterschwelligen Mitleidston bedacht – so, als ob sie ständig in einer Art „Helfer-Modus“ lebten. Dabei ist das Leben mit einem Pflegekind vor allem: Alltag. Mal anstrengend, mal berührend, mal ganz normal.
Pflegekinder sind Kinder. Sie gehen zur Schule, haben Hobbys, Freunde – und sie streiten sich mit ihren Pflegegeschwistern, vergessen ihre Hausaufgaben oder tanzen durch die Küche. Pflegefamilien führen ein Familienleben, das sich in vielem nicht unterscheidet – und in manchem doch, weil sie mit besonderen Herausforderungen leben. Sie wollen nicht „bemitleidet“, sondern verstanden und unterstützt werden. Pflegefamilien wünschen sich Normalität statt Sonderstatus. Sie sind nicht rund um die Uhr im Ausnahmezustand, sondern entwickeln individuelle Routinen und Strukturen. Pflegekinder sind kein „Projekt“, sondern Teil der Familie. Ihr Alltag besteht aus Frühstück, Hausaufgaben, Geburtstagsfeiern – wie in anderen Familien auch. Und wenn Unterstützung nötig ist, dann nicht aus Mitleid, sondern aus Verantwortung.
Mythos 5: Das Kind bleibt doch sowieso für immer bei euch
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist die Annahme, dass Pflegekinder immer wieder in ihre Herkunftsfamilie zurückkehren. In der Dauerpflege ist das jedoch die Ausnahme. Die meisten Kinder, die in einer Dauerpflegefamilie leben, bleiben dort langfristig – oft bis zur Verselbstständigung. Das Ziel ist es, ihnen ein stabiles, verlässliches Zuhause zu geben, in dem sie aufwachsen können. Zwar bleibt der rechtliche Kontakt zur Herkunftsfamilie bestehen, doch eine Rückführung ist meist nicht mehr vorgesehen.
Trotz dieser Langfristigkeit bleibt die Pflegefamilie formal ein Ort „auf Zeit“. Das bedeutet für Pflegeeltern, mit einer gewissen rechtlichen Unsicherheit zu leben – auch wenn faktisch eine dauerhafte Perspektive besteht. Emotionale Bindung, schulische Entwicklung, Alltagsintegration – all das findet in der Pflegefamilie statt. Pflegeeltern leisten somit Elternarbeit, ohne rechtlich Eltern zu sein. Es ist daher umso wichtiger, ihre Rolle zu stärken und gesellschaftlich wie rechtlich anzuerkennen.Ob ein Kind dauerhaft in der Pflegefamilie bleibt, hängt vom Hilfeplan und der Entscheidung des Jugendamts sowie ggf. des Familiengerichts ab. Rückführungen zur Herkunftsfamilie sind möglich – und für Pflegeeltern oft schmerzhaft. Ein Pflegeverhältnis ist immer auch mit Unsicherheit verbunden. Umso wichtiger ist es, Pflegeeltern in dieser Ambivalenz zu stärken. Viele Pflegeeltern leben mit der Ungewissheit, ob das Kind bleiben darf – trotz intensiver Bindung. Das erfordert emotionale Reife und einen starken fachlichen Rückhalt. Auch Kinder spüren diese Unsicherheit und brauchen ehrliche, kindgerechte Kommunikation. Die Realität ist oft ein Leben auf Zeit – mit vollem Einsatz, aber ohne Garantie. Wer das nicht kennt, unterschätzt die seelische Leistung von Pflegeeltern.
Mythos 6: Ihr müsst das Kind doch jetzt „erziehen“ – dann klappt das schon
Traumatisierte Kinder benötigen mehr als Erziehung. Sie brauchen Beziehung, Sicherheit, Stabilität – oft über Jahre hinweg. Klassische Erziehungsmethoden greifen bei ihnen nicht oder nur sehr begrenzt. Viele Pflegekinder haben tiefes Misstrauen, Angst vor Nähe oder Verhaltensmuster, die auf alte Schutzstrategien zurückgehen.
Pflegeeltern handeln deshalb oft traumasensibel statt autoritär. Sie setzen auf Beziehung vor Erziehung, Co-Regulation statt Strafe, Verständnis statt Härte. Außenstehende, die nur „gute Erziehung“ einfordern, verkennen die tieferliegenden Ursachen des Verhaltens. Ein Kind, das aus einem chaotischen oder gewaltvollen Umfeld kommt, kann nicht sofort Vertrauen entwickeln. Der Aufbau von Sicherheit dauert oft Jahre. Die Erfolge sind leise – ein Blickkontakt, ein „Danke“, ein Tag ohne Angst. Pflegeeltern „erziehen“ nicht nur – sie heilen durch Stabilität. Und das ist weit mehr als das Einhalten von Regeln.
Mythos 7: Das macht doch was mit euren eigenen Kindern
Richtig – aber nicht unbedingt negativ. Eigene Kinder in Pflegefamilien sind Teil des Familiensystems. Sie erleben hautnah, was es bedeutet, füreinander da zu sein. Sie lernen Mitgefühl, soziale Verantwortung und entwickeln oft ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz.
Natürlich braucht es klare Strukturen, Aufmerksamkeit und exklusive Zeit mit den leiblichen Kindern. Aber viele Familien berichten, dass gerade diese Konstellation sie als Ganzes gestärkt hat. Der Schlüssel ist eine bewusste Begleitung – nicht die Abschirmung vor Herausforderungen. Eigene Kinder entwickeln oft ein feines Gespür für andere Menschen. Sie wachsen an Konflikten und an der Erfahrung, dass Leben auch anders sein kann. Wichtig ist, dass auch sie gehört, geschützt und gesehen werden.
Mythos 8: Pflegekinder sind „fremde Kinder“
Immer wieder werden Pflegekinder von außen als „fremde Kinder“ gesehen – als „die, die nicht dazugehören“. Diese Haltung ist verletzend, denn sie stigmatisiert. Pflegekinder sind Teil ihrer Pflegefamilie. Sie verdienen Anerkennung, Zugehörigkeit und Schutz vor abwertenden Kommentaren.
Pflegeeltern müssen sich häufig mit Fragen wie „Wo kommt das Kind eigentlich her?“ oder „Was ist mit den richtigen Eltern?“ auseinandersetzen – mit Kindern im Schlepptau. Hier braucht es Sensibilität, Rücksicht und die Bereitschaft, eigene Neugier zugunsten des Schutzes des Kindes zurückzustellen. Jedes Kind hat das Recht, selbst zu entscheiden, wann und mit wem es über seine Geschichte spricht. Pflegeeltern schützen dieses Recht aktiv. Ein respektvoller Umgang beginnt mit Schweigen, wo Rücksicht geboten ist. Pflegekinder sind keine Ausstellungsstücke, sondern Individuen mit Würde. Wer das versteht, hilft mit, Stigmatisierung zu beenden.
Mythos 9: Das kann doch jeder machen
Pflegeelternschaft ist keine spontane Entscheidung. Sie erfordert Vorbereitung, fachliche Schulung, ein Aufnahmeverfahren, regelmäßige Beratung und eine Haltung der Offenheit. Nicht jede Familie ist geeignet – und das ist auch gut so.
Pflegeeltern tragen Verantwortung für ein verletzliches Kind. Sie müssen kooperieren können, stabil sein, sich selbst reflektieren – und belastbar bleiben, wenn es schwierig wird. Es braucht mehr als ein großes Herz – es braucht tragfähige Strukturen, Unterstützung und Durchhaltevermögen. Viele Pflegeeltern sind hoch reflektiert, bilden sich regelmäßig fort und tauschen sich professionell aus. Das System Pflegefamilie ist durchdacht – nicht zufällig. Wer Pflegekindern ein Zuhause gibt, braucht auch ein tragfähiges Umfeld. Und manchmal auch die Größe zu sagen: Jetzt brauche ich Hilfe.
Realität: Pflegefamilien brauchen Respekt – keine Ratschläge
Pflegefamilien brauchen keine ungefragten Erziehungstipps, keine Vorverurteilungen und keine Bewunderung mit Mitleidsunterton. Was sie brauchen, ist Respekt, echtes Interesse, Unterstützung im Alltag und den Blick auf das Ganze.
Pflegekinder sind keine „besonderen Fälle“, sondern Kinder mit Geschichte. Pflegeeltern sind keine „Ersatzmenschen“, sondern liebevolle, stabile Begleiter auf Zeit – oft mit hohem persönlichen Einsatz. Der Alltag ist geprägt von kleinen Entscheidungen mit großer Wirkung. Pflegeeltern treffen sie nicht leichtfertig, sondern mit viel Verantwortung. Sie wünschen sich eine Gesellschaft, die hinschaut – nicht wegsieht oder vorschnell urteilt. Und sie verdienen verlässliche Strukturen, nicht nur gute Worte.
Was wir uns von Außenstehenden wünschen
Wir wünschen uns, dass Pflegefamilien nicht „besonders“, sondern selbstverständlich mitgedacht werden. Dass Nachbarn, Freunde, Lehrer, Erzieher und Verwandte hinschauen, sich informieren und Fragen offen, aber sensibel stellen. Dass Vorurteile durch Wissen ersetzt werden – und Unsicherheit durch Begegnung.
Ein offenes Gespräch beginnt oft mit einer einfachen Haltung: Ich will verstehen. Ich frage nicht, um zu bewerten – sondern um zu lernen. Wer zuhört, ohne zu bewerten, öffnet Räume. Wer fragt, ohne zu entblößen, zeigt Respekt. So entstehen Beziehungen – und Verständnis wächst.
Fazit: Zwischen Mythos und Alltag liegt echte Arbeit
Pflegefamilien bewegen sich zwischen großen Gefühlen, kleinen Erfolgen und vielen Herausforderungen. Der Alltag mit einem Pflegekind verlangt viel – aber er gibt auch viel zurück. Was Außenstehende oft nicht sehen: Es ist keine Heldentat, sondern eine Lebensform. Und diese verdient Unterstützung statt Vorurteile.
Als Jugendhilfe-Träger stehen wir Pflegefamilien mit Rat, Fachwissen und echter Begleitung zur Seite – und setzen uns für mehr Verständnis, Respekt und Sichtbarkeit ein.
Die nächsten Schritte
Wenn wir Ihr Interesse geweckt haben und Sie sich vorstellen können, einem Pflegekind ein neues zuhause zu geben,
nehmen Sie Kontakt mit uns auf. Schreiben Sie uns eine E-Mail: bewerbung@lebensraeume-fh.de
Danach vereinbaren wir einen unverbindlichen Telefontermin. Hier stehen wir Ihnen für alle individuellen Fragen zur Verfügung.