Wenn ein Kind in einer Pflegefamilie lebt, rücken die Herkunftseltern oft in den Hintergrund – zumindest emotional. Doch sie bleiben Teil des Lebens des Kindes. In Gesprächen mit Pflegeeltern, Fachkräften und im öffentlichen Diskurs tauchen immer wieder Pauschalisierungen, Vorurteile und Missverständnisse über Herkunftseltern auf. Dabei sind differenzierte Perspektiven entscheidend – für das Wohl des Kindes ebenso wie für ein gesundes Pflegeverhältnis.
In diesem Artikel räumen wir mit gängigen Mythen über Herkunftseltern auf, zeigen die Realität in ihrer Vielschichtigkeit und erklären, wie ein respektvoller Umgang auch unter schwierigen Umständen möglich ist. Als erfahrener Jugendhilfe-Träger wissen wir: Kinder profitieren, wenn Herkunft und Gegenwart nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Mythos: Herkunftseltern sind grundsätzlich „schlechte Eltern“
Diese Annahme ist besonders verletzend – nicht nur für die betroffenen Eltern, sondern auch für die Kinder. Herkunftseltern kommen aus den unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und persönlichen Kontexten. Viele wurden selbst in instabilen Verhältnissen groß, hatten nie verlässliche Vorbilder für gute Erziehung oder kämpfen mit chronischen Krankheiten und existenziellen Sorgen. Die Beurteilung von „guter“ oder „schlechter“ Elternschaft wird oft auf Grundlage westlicher, bürgerlicher Erziehungsnormen getroffen – ohne die individuellen Bedingungen zu berücksichtigen.
Ein großer Teil der leiblichen Eltern leidet zudem unter psychischen Erkrankungen, wie Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Traumafolgestörungen. Häufig kommt eine Suchterkrankung hinzu – etwa Alkohol- oder Drogenabhängigkeit. Diese Belastungen führen nicht selten dazu, dass sie ihrer Elternrolle nicht dauerhaft gerecht werden können. Es handelt sich dabei nicht um „böswilliges Verhalten“, sondern um ernsthafte Erkrankungen, die Unterstützung und Behandlung erfordern.
Pflegeeltern können viel bewirken, wenn sie sich bewusst mit der Biografie der Herkunftsfamilie auseinandersetzen – auch wenn diese bruchstückhaft oder belastet ist. Denn wer die Hintergründe kennt, kann empathischer begleiten. Die Annahme, ein Kind müsse sich „von seinen schlechten Eltern distanzieren“, führt oft zu innerer Spaltung und Selbstzweifeln. Wertschätzung bedeutet nicht Verharmlosung – aber ein würdevoller Blick auf Herkunft stärkt das Kind. der Herkunftsfamilie auseinandersetzen – auch wenn diese bruchstückhaft oder belastet ist. Denn wer die Hintergründe kennt, kann empathischer begleiten. Die Annahme, ein Kind müsse sich „von seinen schlechten Eltern distanzieren“, führt oft zu innerer Spaltung und Selbstzweifeln. Wertschätzung bedeutet nicht Verharmlosung – aber ein würdevoller Blick auf Herkunft stärkt das Kind.
Eine der häufigsten Annahmen ist, dass Herkunftseltern versagt haben oder ihr Kind nicht lieben. Doch die Realität ist komplexer. Viele Herkunftseltern haben selbst schwierige Lebensbedingungen erlebt: Armut, Gewalt, psychische Erkrankungen oder Sucht. Ihre Erziehungssituation ist oft nicht von mangelndem Willen, sondern von Überforderung geprägt.
Die Entscheidung, ein Kind aus einer Familie zu nehmen, erfolgt nie leichtfertig. Sie basiert auf gründlichen Prüfungen durch Jugendämter und Gerichte. Dabei bleibt die grundsätzliche Wertschätzung der elterlichen Beziehung bestehen. Kinder spüren sehr genau, wie über ihre Herkunft gesprochen wird – und wie Pflegeeltern über ihre leiblichen Eltern denken.
Mythos: Herkunftseltern haben ihr Kind aufgegeben und wollen keinen Kontakt
Häufig fehlt Herkunftseltern die Möglichkeit, eine aktive Beziehung aufrechtzuerhalten. Viele fühlen sich durch das System ohnmächtig: Besuche sind begrenzt, Kontakte überwacht, Entscheidungen werden ohne sie getroffen. Diese Erfahrung von Kontrollverlust verstärkt Gefühle der Scham und Ohnmacht. Einige ziehen sich aus Selbstschutz zurück – um sich und das Kind nicht weiter zu belasten. Andere versuchen verzweifelt, ihre Rolle zu behalten, stoßen aber auf strukturelle Hürden oder Unsicherheiten im Umgang mit Pflegeeltern und Behörden.
In Gesprächen mit Herkunftseltern wird oft deutlich, wie groß die Sehnsucht nach Nähe zum eigenen Kind ist. Pflegeeltern können Brücken bauen, indem sie Kontaktangebote unterstützen, kindgerechte Formen der Begegnung vorschlagen und offen über Unsicherheiten sprechen. Der Aufbau von Vertrauen auf beiden Seiten ist dabei essenziell – und wird langfristig vom Kind mitgetragen.
In der öffentlichen Wahrnehmung gilt oft: Wer ein Kind nicht selbst großzieht, hat sich „nicht genug gekümmert“. Doch viele Herkunftseltern leiden unter dem Verlust ihres Kindes – selbst wenn sie dies nicht offen zeigen. Kontaktabbrüche entstehen häufig nicht aus Desinteresse, sondern aus Scham, Angst, rechtlicher Unsicherheit oder emotionaler Überforderung.
Einige Herkunftseltern kämpfen lange um Rückführung oder Besuchskontakte. Andere ziehen sich zurück, weil sie glauben, es sei besser fürs Kind. Als Pflegeeltern hilft es, diese Ambivalenz zu verstehen – ohne zu bewerten. Kinder profitieren, wenn ihnen kein Schwarz-Weiß-Bild vermittelt wird.
Mythos: Der Kontakt zu Herkunftseltern schadet dem Kind
Tatsächlich hängt die Wirkung des Kontakts stark davon ab, wie er gestaltet wird. Ein abruptes, konfliktreiches oder ungeplantes Wiedersehen kann verunsichern – besonders, wenn es keine Nachbereitung gibt. Doch professionell begleitete Kontakte, in einem sicheren Rahmen und mit klaren Regeln, ermöglichen Kindern emotionale Orientierung. Sie können helfen, Fantasien zu korrigieren („Meine Mama kommt mich bald abholen“) oder Schuldgefühle zu bearbeiten („Ich war schuld, dass ich wegmusste“).
Wenn Kinder erleben, dass sie über ihre Herkunft sprechen dürfen, entstehen neue Formen von Vertrauen – auch zur Pflegefamilie. Pflegeeltern, die sich auf Gespräche über die Herkunft einlassen, öffnen einen Raum, in dem Kinder ganz sie selbst sein dürfen: mit all ihren Wurzeln. Eine gelingende Herkunftsanbindung bedeutet, das Kind als Ganzes anzunehmen – mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Pflegeeltern haben oft Sorge, dass der Kontakt zu den leiblichen Eltern das Kind emotional destabilisiert. Tatsächlich kann der Kontakt herausfordernd sein – insbesondere, wenn er nicht gut vorbereitet oder begleitet wird. Doch ein kontrollierter, kindgerechter Kontakt kann stabilisierend wirken: Er beantwortet Fragen, reduziert Fantasien und schafft Transparenz.
Kinder haben ein Recht auf Herkunft. Auch wenn sie dauerhaft in einer Pflegefamilie leben, bleiben ihre Wurzeln ein Teil ihrer Identität. Eine klare, ehrliche Haltung zur Herkunft – und eine gute Begleitung durch Fachkräfte – helfen Kindern, mit der Realität umzugehen, ohne zerrissen zu sein.
Mythos: Herkunftseltern sind gefährlich oder unberechenbar
In den Medien werden Herkunftseltern oft stereotyp dargestellt – als gewalttätig, unberechenbar oder nicht vertrauenswürdig. Diese Bilder verfestigen sich unbemerkt im gesellschaftlichen Bewusstsein. In der Realität zeigt sich jedoch: Die allermeisten Herkunftseltern wünschen sich, dass ihr Kind in einem sicheren Umfeld aufwächst. Sie akzeptieren das Pflegeverhältnis – auch wenn es ihnen schwerfällt. Und sie sind häufig offen für Austausch, wenn ihnen mit Respekt begegnet wird.
Pflegeeltern können Unsicherheiten offen ansprechen – am besten mit Unterstützung durch Fachkräfte. Ein klarer Rahmen, transparente Kommunikation und verbindliche Absprachen schaffen für alle Beteiligten Sicherheit. Es ist nicht nötig, Nähe zu suchen, die sich nicht gut anfühlt. Aber es hilft, sich nicht von Angst leiten zu lassen, sondern von der Frage: Was braucht dieses Kind – heute und in Zukunft?
Natürlich gibt es Situationen, in denen Herkunftseltern Gewalt ausgeübt haben oder instabil wirken. Aber das ist nicht die Regel. Viele Herkunftseltern sind grundsätzlich kooperationsbereit, solange sie respektvoll und auf Augenhöhe behandelt werden. Eskalationen entstehen häufig durch Missverständnisse, Machtungleichgewichte oder fehlende Kommunikation.
Ein professioneller Rahmen, klare Absprachen und die Begleitung durch Fachkräfte schaffen Sicherheit – für Kind, Pflegeeltern und Herkunftseltern. Angst darf kein alleiniger Maßstab für Entscheidungen sein. Differenzierung hilft, tragfähige Lösungen zu finden.
Mythos: Pflegeeltern müssen Herkunftseltern ablehnen, um loyal zum Kind zu sein
Loyalität ist kein Nullsummenspiel. Kinder müssen nicht wählen zwischen „richtiger“ und „falscher“ Familie. Vielmehr brauchen sie das Gefühl, dass alle wichtigen Erwachsenen in ihrem Leben an einem Strang ziehen. Wenn Pflegeeltern Herkunftseltern nicht abwerten, sondern respektvoll von ihnen sprechen, erleben Kinder: Ich darf beide lieben – auf unterschiedliche Weise.
Das entlastet das Kind und stärkt seine innere Sicherheit. Pflegeeltern können loyal zum Kind sein, indem sie dessen Herkunft mittragen – auch wenn sie diese nicht idealisieren. Eine Haltung der Offenheit und des Respekts schafft Vertrauen und emotionale Stabilität.
Mythos: Herkunftseltern ändern sich nie
Ein weiterer häufiger Irrtum ist, dass Herkunftseltern „nicht lernfähig“ seien. Doch Menschen entwickeln sich. Gerade der Verlust des eigenen Kindes kann Veränderungsprozesse in Gang setzen – sei es durch Therapie, Entzug, neue Lebensumstände oder die Geburt eines weiteren Kindes.
Fachkräfte beobachten häufig, dass Eltern, die ernst genommen und unterstützt werden, überraschende Fortschritte machen. Diese Entwicklung ist nicht immer linear – aber sie ist möglich. Pflegeeltern müssen nicht alles glauben – aber sie können offen für Entwicklung sein. Das bedeutet nicht, dass Rückführung immer das Ziel ist – sondern dass Beziehungsgestaltung dynamisch bleibt.
Mythos: Nur die Pflegefamilie zählt – alles andere ist Vergangenheit
Manche Pflegeverhältnisse dauern viele Jahre – das Pflegekind wird Teil der Familie, die Vergangenheit scheint weit entfernt. Doch Herkunft ist nicht löschbar. Sie lebt in den Erinnerungen des Kindes, in seinen Fragen, seiner Geschichte und Identität. Kinder sind oft loyal gegenüber ihrer Herkunft – auch wenn sie Negatives erlebt haben.
Pflegefamilien tun gut daran, die Herkunft präsent zu halten – durch offene Gespräche, Fotos, Geschichten, Besuche oder Briefe. So entsteht ein realistisches, aber nicht entwertendes Bild. Das Kind muss seine Vergangenheit nicht verleugnen, um in der Gegenwart angenommen zu sein.
Was Pflegeeltern stattdessen tun können
Statt sich von Mythen leiten zu lassen, hilft ein offener, reflektierter Umgang mit Herkunftseltern. Pflegeeltern können:
- sich über die Biografie des Kindes informieren
- aktiv mit Fachkräften über Kontakte sprechen
- sich bewusst machen, welche Gefühle Herkunftseltern in ihnen auslösen
- wertschätzend über Herkunft sprechen – auch im Beisein des Kindes
- Unsicherheiten benennen und klären lassen
Dazu gehört auch, die eigenen Grenzen zu respektieren. Niemand muss alles gutheißen. Aber ein wertschätzender Umgang ist möglich – und wirkt sich unmittelbar auf das Kind aus.
Die Rolle der Fachkräfte und Jugendämter
Ein gelingendes Miteinander zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie braucht professionelle Begleitung. Fachkräfte sind Vermittler, Schutzgeber und Strukturierer. Sie können helfen, Missverständnisse zu klären, Erwartungen zu sortieren und Kontakte kindgerecht zu gestalten.
Gleichzeitig brauchen auch Fachkräfte eine Haltung, die frei von Vorurteilen ist. Es geht nicht um „richtig“ oder „falsch“, sondern um die Frage: Was hilft diesem Kind, seine Geschichte zu integrieren – ohne Abwertung und Spaltung?
Herkunft und Gegenwart gemeinsam denken – für das Wohl des Kindes
Pflegeelternschaft ist kein Gegenmodell zur Herkunft – sondern eine Ergänzung. Kinder brauchen keine Abgrenzung, sondern Integration. Wenn es gelingt, Herkunftseltern nicht als Bedrohung, sondern als Teil der Biografie zu verstehen, entsteht Raum für Entwicklung.
Das ist nicht immer einfach – aber langfristig heilsam. Denn Kinder, die erleben, dass ihre Herkunft akzeptiert wird, können sich selbst annehmen. Und das ist die beste Grundlage für eine gesunde Entwicklung.
Fazit: Herkunft ist kein Makel – sondern ein Teil des Ganzen
Mythen über Herkunftseltern halten sich hartnäckig – doch sie helfen niemandem. Nicht den Kindern, nicht den Pflegeeltern und auch nicht den Herkunftsfamilien. Was stattdessen stärkt, ist Offenheit, Differenzierung und Respekt.
Wir als Jugendhilfe-Träger setzen uns dafür ein, dass Herkunft und Pflege nicht gegeneinander arbeiten, sondern gemeinsam das Kind stärken. Mit Haltung, Begleitung und dem klaren Ziel: Beziehung ermöglichen – trotz aller Unterschiede.
Die nächsten Schritte
Wenn wir Ihr Interesse geweckt haben und Sie sich vorstellen können, einem Pflegekind ein neues zuhause zu geben,
nehmen Sie Kontakt mit uns auf. Schreiben Sie uns eine E-Mail: bewerbung@lebensraeume-fh.de
Danach vereinbaren wir einen unverbindlichen Telefontermin. Hier stehen wir Ihnen für alle individuellen Fragen zur Verfügung.